Performing History I
Postkoloniale Identität in der zeitgenössischen Kunst
Die Zeiten, in denen Weltkunst vornehmlich als weiße Kunst verstanden wurde, während Positionen des globalen Südens weitgehend aus dem Olymp des White Cube ausgeschlossen blieben, sind vorbei. Einen neutralen europäischen Blick auf die Geschichte gibt es nicht. Diversität und Inklusion bedeuten ein Programm für die gesamte Bevölkerung und das Eintreten für eine offene und dynamische Gesellschaft. Die ausgewählten Künstler*innen setzen sich in ihren filmischen Werken auf jeweils spezifische Weise mit der Dezentrierung und Dekolonisierung des Denkens und mit der Bewegung zwischen unterschiedlichen Identitäten und Lebenswirklichkeiten auseinander. Die Ausstellung versammelt international herausragende künstlerische Positionen, die postkoloniale Kritik und Hybridität in überzeugenden filmischen Darstellungen zu einer anderen Geschichte verknüpfen.
Yinka Shonibare CBE RA (1962 London, GB)
Der renommierte britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare hat ein vielseitiges Oeuvre entwickelt, in dem er das Erbe des ehemaligen Britischen Weltreichs und des westlichen Kolonialismus untersucht. Bekannt geworden ist Shonibare durch seine raumgreifenden Installationen mit kopflosen, lebensgroßen Figuren in historischen Kostümen, die aus bunten Dutch-Wax-Batikstoffen geschneidert sind. Der Künstler sieht sich selbst in der Rolle eines „postkolonialen Hybriden“ und stellt die Dekonstruktion von nationalen und kulturellen Identitäten ins Zentrum seines Schaffens. Er greift bevorzugt Episoden aus der europäischen Kunst und Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts auf und gestaltet sie zu tragikomischen Szenen des menschlichen Tuns aus. In seinem Werk verbindet er Theatralik und Ironie mit historischer Tiefenschärfe und einem ausgeprägten Sinn für die Dekadenz des Rokoko-Zeitalters und die Absurditäten der sogenannte Leisure Class.
Un Ballo in Maschera (2004) ist der erste von insgesamt drei Filmen Shonibares. Frei nach der gleichnamigen Oper Giuseppe Verdis (1859) gleicht die filmische Inszenierung einer fantastischen Zeitreise in die Vergangenheit auf einen Maskenball des schwedischen Königs Gustav III. im Jahr 1792. Der dekadente Lebensstil und die erfolglosen Expansionskriege wurden dem Monarchen zum Verhängnis, und er starb an den Folgen eines Attentats, das auf einem Maskenball von einem jungen Adligen verübt wurde. In Shonibares Filmversion der Ereignisse ist hinter den Masken ein Rollentausch der Figuren erkennbar: Der König wird von einer Darstellerin verkörpert und der tödliche Schuss erfolgt aus der Pistole einer Frau. Das Geschehen wird in drei leicht variierten Sequenzen gezeigt. Dadurch bleibt das Ende der Geschichte offen und es kommt zu keiner moralischen Auflösung von Ursache und Wirkung. In den artifiziellen Tanzperformances werden die Konstruktion von Geschlechteridentitäten und die Zuweisung von moralischen Eigenschaften zur Disposition gestellt.
Yinka Shonibare, Un ballo in maschera, 2004, Video, 32 min.
Addio del Passato (2011) bezieht sich auf die gleichnamige Arie aus Verdis Oper La Traviata von 1853. Während des gesamten Films singt eine schwarze Opernsängerin die berühmte Totenklage der unglücklichen Violetta. Für die Gefühle von Verlust und Sehnsucht der Violetta findet Shonibare eine Parallele in der Geschichte von Lord Nelsons Verrat an seiner Frau Frances Nisbet und seiner leidenschaftlichen Liebesaffäre mit Lady Emma Hamilton. Im Video wird das ergreifende Klagelied dreimal mit subtilen Variationen in der Inszenierung wiederholt und in regelmäßigen Abständen durch Bilder von Nelson und seiner Geliebten unterbrochen. Daraus ergibt sich eine eindringliche Inszenierung von Begehren, Liebe, Unterdrückung und Macht. Yinka Shonibare, Addio del Passato, 2011, Video, 16:52 min.
Voluspa Jarpa (1971 Rancagua, CL – Santiago de Chile, CL)
Voluspa Jarpa gehort zur ersten Generation chilenischer Künstler*innen, die nach der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–90) unter demokratischen Bedingungen studieren konnten. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit kolonialistischer und rassistischer Unterdrückung auseinander und verbindet diese mit feministischen Anliegen und dem Kampf um selbstbestimmte geschlechtliche und sexuelle Identitaten.
In The Emancipating Opera (2019) greift Jarpa die musikalische Form der Kantate auf und nutzt dieses aus der europaischen Musikgeschichte stammende Genre, um eine Erzählung über Macht und Emanzipation zu schaffen. In dem Stück treffen Stimmen aufeinander, die einerseits die hegemoniale Psyche der weisen, europäischen und später US-amerikanischen patriarchalischen Kolonisatoren und andererseits die subalterne Psyche marginalisierter Gesellschaftsschichten besingen. Im Video vermitteln zwei Protagonist*innen zwischen diesen Polen: zum einen der „arriero“, ein traditioneller chilenischer Maultiertreiber, und zum anderen die transsexuelle Sängerin und Schauspielerin Daniela Vega.
Die Wurzeln der „arriero“ liegen in der europäischen Kolonialisierung Chiles; andererseits sind sie auch Nachkommen indigener Gemeinschaften und eng mit der ungezähmten Natur und der frühen Kultur der Andenvölker verbunden. In Jarpas Video wird die indigene Kultur mit kolonialistischen Schriften kontrastiert, die mit ihrem Abwertungsdiskurs die Unterwerfung nicht-westlicher Kulturen zu legitimieren suchten. Die Sängerin Daniela Vega agiert als eine Figur der mehrfachen Rebellion: Sie widersetzt sich nicht nur der Kolonisierung von Natur, Kultur und Menschen, sondern auch der Einschränkung und Zähmung des Körpers.
Voluspa Jarpa, Emancipating Opera, 2019, Video, 11:53 min.